In dieser Rubrik findet ihr Geschichte(n) aus den Jahren 1989/90 in der DDR sowie der Nachwendezeit und der sogenannten Baseballschlägerjahre. Es handelt sich ausschließlich um Ereignisse, die ich selbst so oder so ähnlich erlebt habe. Viel Spaß beim Lesen und gerne kommentieren oder eigene Erfahrungen teilen!
Ich liebe Wien. Nicht von Anfang an. Ich brauchte zwei Anläufe. Aber mittlerweile liebe ich die Stadt – auch dafür, dass ich mich hier sicher fühlen kann. Ich werfe zwar noch immer den Scanner an, sobald die Sonne untergeht und ich unterwegs bin. Aber ich sehe hier kaum einmal eine für mich gefährlich erscheinende Situation. (Und ja, damit bin ich privilegiert, ich weiß.)
Schlüssel in der Faust
Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal vorsichtshalber die Straßenseite gewechselt habe oder in der Hosentasche nach meinem Schlüssel gegriffen habe – um ihn im Ernstfall zur Verstärkung eines möglichen Faustschlags einzusetzen. Muss bei einem meiner seltener gewordenen Besuche in der alten Heimat Berlin gewesen sein.
Schlüsselbund als Schutz. (Foto: Pexels/Pixabay)
Dort bin ich 1997, nach dem Abitur, vom Plattenbaubezirk Marzahn, in dem ich groß geworden bin, schnell in den Friedrichshain gezogen, um potenziellen Begegnungen mit Rechten zu entgehen. Und das Leben im Friedrichshain war seit Anfang der 1990er-Jahre auch tatsächlich entspannter für Andersdenkende und Andersaussehende.
Die Nähe zu Lichtenberg, einem Stadtbezirk, in dem nach der Wende Rechte Häuser besetzten und das Straßenbild dominierten, sorgte aber für Gefährdungen auch im Friedrichshain. Wer nachts öfter mal mit der U-Bahn U5 unterwegs war oder sich schon einmal als Andersaussehender nach 20 Uhr auf die einmal jährlich stattfindende sogenannte Biermeile in der Karl-Marx-Allee – mitten im Herzen von Friedrichshain – begeben hat, weiß, was ich meine.
Baseballschlägerjahre: Rechtes Gedankengut
Angefangen hat das Ganze, das jetzt unter dem Begriff Baseballschlägerjahre zusammengefasst wird, für mich in den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall. Ähnlich wie nach 2016 die sächsischen Wutbürger aus dem Nichts gekommen zu sein schienen, quoll ab Ende 1989 rechtes Gedankengut aus den Köpfen meiner Mitschülerinnen und Schüler sowie der Bewohnerinnen und Bewohner meines Viertels.
Bei Gedanken oder gar Worten blieb es in den kommenden Monaten und Jahren nicht. Ich habe Hetzjagden auf vietnamesische Zigarettenverkäufer gesehen, bin selbst gejagt, beschimpft, geschlagen worden, fand nicht nur einmal die letzte Zuflucht nur hinter einer der gläsernen Eingangstüren zu einem Haus, in dem ein Freund wohnte.
Hetzjagd von Guben
Eine solche Glastür wurde dem algerischen Asylbewerber Farid Guendol (auch unter dem falschen Namen Omar Ben Noui bekannt) zum Verhängnis. Guendol war in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1999 in der brandenburgischen Stadt Guben mit zwei Begleitern auf der Flucht vor elf gewalttätigen ausländerfeindlichen Jugendlichen.
In Todesangst trat er eine Glastür ein, um sich in den Hausflur zu retten. Dabei verletzte er sich an der Beinarterie und verblutete innerhalb weniger Minuten. Von einem seiner Begleiter ließen die zwischen 17- und 21-jährigen Rechtsradikalen nur deswegen ab, weil sie dachten, er sei schon tot.
Der dritte Verfolgte konnte sich per Taxi in ein Bistro retten, das anschließend von den Verfolgern erfolglos belagert wurde. Die sogenannte Hetzjagd von Guben fand auch dann noch kein Ende, als der ins Bistro Geflohene unter dem Verdacht der Körperverletzung von der Polizei festgenommen wurde.
Verfolgung bis zur Polizeiwache
Die Jugendlichen verfolgten den Polizeiwagen bis zur Wache und versuchten sogar, dort einzudringen. Als ihnen das nicht gelang, fuhren zehn der Angreifer zu einem asiatischen Restaurant und warfen dessen Scheiben ein.
Nach einem langwierigen Prozess sowie der Änderung der ursprünglichen Urteile durch den Bundesgerichtshof kam der Haupttäter, Alexander Bode, mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren davon.
Täter bereut nichts
2008 trat dieser Alexander Bode, letztlich erfolglos, im Landkreis Spree-Neiße für die NPD bei den Kommunalwahlen an. Die Tat bereute er nicht. Stattdessen soll er 2009 in Guben wieder an einer Gewalttat, dieses Mal gegen eine 14-jährigen Linken, beteiligt gewesen sein. Bode hat das bestritten. Mehr Informationen konnte ich dazu nicht auftreiben.
Der Landkreis Spree-Neiße sorgte jedenfalls auch 2024 für Schlagzeilen. Denn hier hatte die AfD bei den Kommunalwahlen 38,2 Prozent der Stimmen bekommen. So viel gab es – mit Abstand – in keinem anderen Brandenburger Landkreis.
Zu dieser Erinnerung passt das Parc de Triomphe Lied „Trocknet, meine Tränen“:
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Coca-Cola und Anarchie
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