In dieser Rubrik findet ihr Geschichte(n) aus den Jahren 1989/90 in der DDR sowie der Nachwendezeit und der sogenannten Baseballschlägerjahre. Es handelt sich ausschließlich um Ereignisse, die ich selbst so oder so ähnlich erlebt habe. Viel Spaß beim Lesen und gerne kommentieren oder eigene Erfahrungen teilen!
März 1990
Wir schlendern betont unauffällig durch einen neueröffneten Laden neben der Tankstelle in unserem Viertel in Berlin-Marzahn, in dem man Produkte aus dem Westen mit DDR-Mark kaufen kann.
Eigentlich ist es gar kein richtiger Laden. Vielmehr hat ein Gartenbesitzer seine Garage etwas erweitert und ein paar Tische und Regale aufgestellt, auf und in denen jetzt Coca-Cola-Dosen, Haribo-Tüten oder Asbach-Uralt-Flaschen stehen.
Und eigentlich schlendern wir auch gar nicht, sondern drücken uns an den zahlreichen Menschen vorbei, die andächtig schauend vor den Regalreihen auf- und abgehen, mit den Fingern auf eine Dose oder eine Flasche zeigen und in ihre Bärte murmeln, dass das Zeug ja ziemlich teuer sei und dass wir endlich die D-Mark bräuchten.
Eine Coca-Cola-Dose mit nur 330 Millilitern Inhalt kostet 5 DDR-Mark. Das ist doppelt soviel wie ich in der Woche an Taschengeld bekomme. Eine Woche zuvor hatte ich mir mit K. eine Dose und die Kosten geteilt – als seine Eltern das mitbekamen, wuschen sie uns die Köpfe.
Für den kapitalistischen Scheiß soviel Geld zu verschwenden, dafür hätten wir doch fünf Flaschen Club-Cola bekommen können.
Aber wir wollten Coca-Cola. Auch heute.
Coca-Cola war 1989/90 mein Traum … sorry. (Foto: kajag76/Pixabay)
An diesem Sonntagnachmittag hat keiner von uns genug Geld dabei, um sich eine Dose zu kaufen. Aber wir lernten schnell. Im Kapitalismus nimmt man sich, was man will, meinen wir gehört zu haben.
Nachdem wir schon im Januar unsere blauen Pionierausweise zerrissen und die Fetzen unter der Tür der Pionierleiterin hindurchgeschoben hatten, fühlen wir uns jetzt, im Frühjahr, schon lange nicht mehr an deren verlogene 10 Gebote gebunden.
Wir lieben die Wahrheit? Warum? Wo doch die Erwachsenen uns in den vergangenen Jahren offensichtlich nach Strich und Faden belogen haben.
Wir sind zuverlässig? Ernsthaft? In einem Land, das komplett auseinanderbricht und wo nichts mehr so ist, wie es noch vor ein paar Monaten war?
Ihr könnt uns mal, ist das Gebot der Stunde. Es herrscht Anarchie.
Der ABV, der uns früher Benehmen beibrachte und uns mit einem Besuch bei den Eltern drohte? Stasi! Nicht mehr zu sehen – jedenfalls lässt er nicht mehr den ABV heraushängen.
Lehrer? Stasi – oder voller Angst! Wir wissen, was ihr noch im letzten Sommer gesagt und getan habt!
Die Eltern? Stasi – oder komplett verunsichert! Sie haben keine Ahnung, was sie uns jetzt noch vorschreiben sollen, jetzt, wo die Vorschriften, nach denen sie die vergangenen Jahrzehnte gelebt haben, von einem Tag auf den anderen nicht mehr gelten.
Einer nach dem anderen von uns verlässt die Garage samt hölzernem Vorbau mit ausgebeulter Hosen- oder Jackentasche. In dem Gedränge fällt das nicht weiter auf.
Erst als wir langsam, langsam durch das Gartentor hinaus auf den Schotterweg getreten sind, nehmen wir die Beine in die Hand und rennen solange, bis wir völlig außer Atem sind.
Befreit und glücklich öffnen wir auf der Wiese hinter den 11-Geschossern die Coca-Cola-Dosen und lassen uns das süße, sprudelnde, lauwarme Gesöff in den Rachen laufen.
Wir sind so aufgekratzt, dass wir die Plattenbauten entlang patrouillieren und beginnen, Parolen zu rufen. „Stasi raus“, „Honni in den Knast“, „Her mit der D-Mark“, „BRD für alle“.
Wir sind nicht wählerisch. Politik ist uns fremd. Wir wissen nur, was wir zu wissen glauben: Die SED hat ausgesorgt. Die Wiedervereinigung steht vor der Tür. Die D-Mark muss kommen – und natürlich Coca-Cola.
Jetzt marschieren wir am Haus von R. vorbei, einer Klassenkameradin. Ihr Vater soll bei der Stasi sein oder gewesen sein, jedenfalls ein Stasi-Schwein.
Wir schreien so laut wir können, R.s Nachnamen und meinen den Vater: „Du Stasi-Schwein“ und noch einmal „Stasi raus“!
Keiner von uns hat irgendwelche Beweise gegen R.s Vater. Einer von uns hat das irgendwo aufgeschnappt. Aber wir sind alle froh, dass es nicht uns getroffen hat.
Denn wer weiß denn schon genau, ob die eigenen Eltern, Großeltern, Tanten und Onkels nicht auch bei der Stasi waren oder sind.
Und wie sich später noch herausstellen sollte, hätten einige von uns vielleicht besser daran getan, nicht so laut zu schreien.
Oder gerade! Denn Schreien nimmt die Angst.
Zu dieser Erinnerung passt das Parc de Triomphe Lied „Hals ohne Tücher“:
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