Ostdeutschland und der ESC – es ist kompliziert
Berlin, Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind bis heute kaum präsent
Herzlich willkommen auf dem Gebiet der Demokratischen Republik Ost Berlin (D.R.O.B.) und zu einer neuen Ausgabe des D.R.O.B. Newsletters.
Hast du schon den Prosecco eingekühlt, die Einladungen an deine Freundinnen und Freunde verschickt, die Häppchen geplant, Länderflaggen gebastelt und getestet, ob dein Bluetooth-Lautsprecher mit deinem neuen Fernseher gekoppelt werden kann?
Dann ist ja alles bereit für einen schönen ESC-Abend! Geht es nach den aktuellen Wettquoten, wird Schweden das Rennen machen. Danach folgt demnach Österreich. Platz 3 geht an Frankreich.
Abor & Tynna „Ballern“ beim ESC 2025. (Foto: Corinne Cumming/EBU)
Deutschland dürfte sich demnach immerhin in den Top-20 platzieren. Mit einem zugegebenermaßen nicht allzu starken Song … again. Aber warten wir einmal ab, wie gut Abor & Tynna ballern.
ESC 2025: Wer wird gewinnen?
Mein Favorit: Portugal – hat es ins Finale geschafft. Zusätzlich drücke ich Österreich im Finale die Daumen, dem Land, das mir eine prima zweite Heimat geworden ist. Und okay, Spanien muss auch noch vorn dabei sein! #idalove
Was ist dein Favorit – und warum? Sag es uns doch bitte in den Kommentaren!
Falls du noch auf der Suche nach passenden Gesprächsthemen für deine ESC-Party bist, habe ich hier das perfekte Futter. Denn wusstest du, dass ein Teilnehmer der allerersten Ausgabe des ESC-Vorläufers Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne im Jahr 1956 aus Aschersleben in Sachsen-Anhalt stammte?
Oder, dass es im Ostblock eine – allerdings nur kurzlebige – Konkurrenzveranstaltung zum Grand Prix gab? Und, dass seit 1990 nur 3 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am ESC in Ostdeutschland geboren wurden? Nicht mitgerechnet natürlich die deutschen ESC-Vorausscheide – „Ik werd zun Schwein“, my dear.
1. Premiere-Teilnehmer in Aschersleben geboren
Wenn man zu möglichen Verbindungen zwischen dem ESC und Ostdeutschland und der DDR recherchiert, fällt einem eins ins Auge. Beim allerersten Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne, der 1956 in Lugano in der Schweiz stattfand, waren gleich zwei deutsche Starter am Start.
Neben Freddy Quinn war bei der Premierenveranstaltung auch der in Aschersleben geborene Walter Andreas Schwarz dabei, der das selbst komponierte Lied „Im Wartesaal zum großen Glück“ vortrug.
Derweil hat allerdings weder Schwarz wirklich etwas mit Ostdeutschland oder der DDR zu tun noch das Lied mit einem fröhlichen Chanson. Aber der Reihe nach.
Eltern sterben im KZ
Schwarz wurde 1913 in Aschersleben geboren und ging nach dem Abitur 1932 nach Wien, um dort Schauspieler zu werden – was ihm auch gelang. 1938 wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung ins KZ-Außenlager Holzen (Niedersachsen) deportiert.
Dort überlebte er wohl nur, weil er den Lagerkommandant aus seiner Schulzeit kannte. Seine Eltern starben aber im KZ.
Schwarz engagierte sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs in der Bundesrepublik Deutschland für eine Wiedergutmachung. Sein ESC-Song ist autobiografisch und geht hart mit der Verdrängung der NS-Vergangenheit in den 1950er-Jahren ins Gericht.
„Und man baute am Kai der Vergangenheit / Einen Saal mit Blick auf das Meer / Und mit Wänden aus Träumen gegen die Wirklichkeit / Denn die liebte man nicht sehr“
Walter Andreas Schwarz
Inwieweit der Song erfolgreich beim Grand Prix war, ist nicht bekannt. Lediglich der 1. Platz der schweizerischen Schlagersängerin Lys Assia („Refrain“) ist überliefert. Die übrigen Platzierungen wurden nicht bekanntgegeben.
Ob Schwarz, wie gemunkelt, tatsächlich Zweiter – und damit erfolgreichster Ostdeutscher beim ESC – geworden ist, ist unklar und ein Stück weit Spekulation.
Schwarz arbeitete ab 1948 für die BBC in London als Sprecher, er lebte später in Paris und Heidelberg, wo er 1992 starb. Insgesamt wirkte er in mehr als 200 Hörspielen mit und erwarb sich für seine Produktionen internationales Ansehen.
2. Intervision-Liederwettbewerb im Ostblock
Die Länder des Ostblocks, darunter die DDR, waren bis zum Fall des Eisernen Vorhangs ab 1989 nie Teil der Europäischen Rundfunkunion (EBU) und damit auch nicht zur Teilnahme am Grand Prix Eurovision berechtigt.
Das EBU-Pendant Intervision, zu dem neben den Fernsehanstalten der sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas auch jene der Mongolei sowie von Österreich und Finnland gehörten, brachte 1977 einen eigenen Liederwettbewerb an den Start.
Fun Fact: Intervision hatte eine eigene Melodie in Form einer Fanfare, die 1971 von Dmitri Schostakowitsch komponiert worden war.
Und ja, der einfallsreiche Name der Konkurrenzveranstaltung zum ESC lautete Intervision-Liederwettbewerb. Neben Frank Schöbel und Ute Freudenberg waren auch internationale Stars wie Karel Gott, Kim Wilde oder Boney M. am Start. Das DDR-Fernsehen schnitt deren Song „Rasputin“ allerdings aus der Übertragung raus.
Geschenkt. Das Ganze hatte ohnehin nur eine sehr kurze Halbwertszeit. 1980 fand mit der vierten schon die letzte Auflage der Veranstaltung statt. Die DDR konnte sich in dieser Zeit nicht durchsetzen.
Chansontage der DDR
Als nationalen Musikwettbewerb gab es hierzulande übrigens alle 2 Jahre die Chansontage der DDR (von 1972 bis 1992). Hier präsentierten sich Chanson-Sängerinnen und -Sänger, Liedermacherinnen und Liedermacher sowie Schauspielerinnen und Schauspieler mit eigenen Texten.
1987 gewann hier der tolle Lausitzer Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann.
3. Nach 1990 kaum ESC aus Ostdeutschland
Aber auch nach der Wiedervereinigung war der ESC kein echtes Zuhause für ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler. Aber mal ehrlich? So richtig cool war der Event ja auch lange Zeit nicht.
Ich bin eigentlich das erste Mal 1998 auf den ESC aufmerksam geworden, als Guildo Horn mit „Guildo hat euch lieb“ und zwei Jahre später Stefan Raab („Wadde hadde dudde da“) auf die Bühne kamen.
Und natürlich habe ich 2010 auch Lena und ihren „Satellite“ gefeiert. Vielleicht kein guter Zeitpunkt zum Einstieg, denn ab da ging es eigentlich nur noch bergab, nimmt man mal Michael Schulte mit Platz 4 im Jahr 2018 aus.
In die Top-Ten „Ballern“
Wenn Deutschland heute Abend an den Start geht, „Ballern“ sich Abor & Tynna (aus Wien) hoffentlich in Richtung Top-Ten. Aber für ganz vorn wird es sicher nicht reichen. Und jetzt … tada … die Überleitung zum Thema Ostdeutschland: Für Ostdeutsche hat es auch nicht oft gereicht, um für Deutschland beim ESC anzutreten.
Die Zeit hat in einer Deutschlandkarte einmal dargestellt, aus welchen Städten und Bundesländern die deutschen ESC-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nach 1990 kamen. Dieser Übersicht zufolge sind nur 3 ostdeutsche Künstlerinnen zu dieser Ehre gekommen – ausnahmslos in Bands und dort jeweils als einzige Ostdeutsche.
Zur Einordnung: Insgesamt waren 58 Künstlerinnen und Künstler seit 1990 für Deutschland beim ESC am Start, darunter 9, die nicht aus Deutschland stammen, 7 allein aus München – und eben ganze 3 aus ganz Ostdeutschland. Vorsicht gesagt, geht da doch noch was, oder?
Die drei ostdeutschen Teilnehmerinnen in der Übersicht:
Jutta Niedhardt aus Harzgerode (1991 mit Atlantis 2000): Platz 18
Kati Karney aus Frankfurt/Oder (1994 mit Mekado): Platz 3
Yvonne Grünwald aus Salzwedel (2014 mit Elaiza): Platz 18
Immerhin bei den ESC-Vorentscheiden durften einige wirklich coole Bands aus Ostdeutschland antreten. Erinnert sei an den legendären Auftritt von Knorkator („Ik werd zun Schwein“) im Jahr 2000. Oder die Indie-Pop-Größen MiA. mit „Hungriges Herz“ im Jahr 2004.
Ist mir was entgangen? Gern ab damit in die Kommentar-Sektion! Und jetzt noch einmal Knorkator genießen!
Hast du nach den ganzen ESC-Informationen noch Zeit und Lust, etwas anderes zu lesen? Etwas, das auch mit Ostdeutschland und Musik zu tun hat? Dann empfehle ich dir den wirklich ausgezeichneten (puh :)) Artikel zu meinem Guilty Pleasure und den damit zusammenhängenden Bauchschmerzen.
Warum mein Guilty Pleasure mir Bauchschmerzen bereitet
Ich habe es getan. Ich habe mir den Podcast „Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood“ angehört. Ja, genau, den Podcast von Bill und Tom Kaulitz – Tokio Hotel, Monsun, Haare, Eyeliner, Heidi Klum, Magdeburg, Kalifornien – you name it.
Und ich möchte dich natürlich nicht entlassen, ohne dass du die wirklich herzerwärmende Geschichte aus meiner Kindheit/Jugend gelesen hast. Es geht um Coca-Cola, Anarchie und Stasi – und ein bisschen auch um verlorengegangene Glaubenssätze.
Coca-Cola und Anarchie
In dieser Rubrik findet ihr Geschichte(n) aus den Jahren 1989/90 in der DDR. Es handelt sich ausschließlich um Ereignisse, die ich selbst so oder so ähnlich erlebt habe. Viel Spaß beim Lesen und gerne kommentieren oder eigene Erfahrungen teilen!
Falls du den Newsletter der vergangenen Woche verpasst hast, reiche ich dir den hier natürlich auch gern noch einmal nach. Darin habe ich zum Thema Rechtsrock recherchiert und erkläre dir auch, worauf du achten solltest, wenn du deine Augen und Ohren davor schützen willst.
„Ostmullen“ lieben Rechtsrock – wie bitte?
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